Über Jahrhunderte kennzeichnete der „Drang zum Meer“ die
russische Außen- und Expansions-politik. Peter der Große errichtete
1703 die neue Hauptstadt seines Reiches, St. Petersburg, bewusst am
neu gewonnenen Zugang zur Ostsee.
In zahlreichen Auseinandersetzungen
wie etwa dem Großen Nordischen Krieg gegen Schweden hatte Russland
diesen Zugang zur Ostsee erzwungen und behaupten können. Ebenso gelang es, sich im 18. Jahrhundert gegen den
Widerstand des osmanischen Reiches und dessen Verbündeten, dem
Krimkhanat, den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern und sich ein Gebiet
um die Halbinsel Krim unter dem
heute wieder populären Namen „Neurussland“ einzuverleiben. Im
19. Jahrhundert gelangte Russland schließlich an den Pazifik und
sicherte sich im Vertrag von Aigun 1858 Teile der Mandschurei von
China, in dessen Folge die Stadt Wladiwostok am japanischen Meer
gegründet wurde.
Das
historische Ziel, der Zugang zum Meer, war erreicht. Dennoch haben
diese Erfolge bis heute für Russland einen entscheidenden
Schönheitsfehler: Die Zugänge zu diesen Seegebieten waren und
werden von anderen Staaten kontrolliert, die heute überwiegend
Verbündete des Erzrivalen USA sind. So kontrollieren die Ausgänge
aus der Ostsee die NATO-Staaten Dänemark, Norwegen und Deutschland.
Der Durchgang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer, der Bosporus, ist
Hoheitsgebiet des NATO-Mitglieds Türkei (auch wenn die Durchfahrt
bis heute im Vertrag von Montreux von 1936 geregelt bleibt) und auch
der pazifische Raum wird von den US-Verbündeten Südkorea und Japan,
wenn nicht von den USA selbst kontrolliert. Russland hat zwar
Zugänge, aber alle stellen gewissermaßen „Kopfbahnhöfe“
dar. Nirgends kann Russland bedeutende internationale Seewege
kontrollieren, sondern muss sich im Gegenteil mit der Kontrolle durch
andere Staaten abfinden. Im Schwarzen Meer sieht Russland sich sogar
immer stärker in die Defensive gedrängt. 2008
drohte gar die NATO-Mitgliedschaft der ehemaligen
Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine, wogegen Russland sich
mutmaßlich auch militärisch zur Wehr setzte: So 2008 im kurzen
Krieg gegen Georgien, den Russland für sich entscheiden konnte.
Seither versucht es, die Konflikte
der abtrünnigen Teile Abchasien und Süd-Ossetien mit dem
georgischen Mutterland dauerhaft am köcheln zu halten, um die
Aufnahme Georgiens in die NATO möglichst lange zu verhindern.
Aktuell geschieht dies auch in der Ukraine, von der die für Russland
strategisch so wichtige Krim-Halbinsel annektiert wurde und in deren
Osten Russland ebenfalls einen Dauerkonflikt zu installieren droht.
Dennoch scheint es derzeit nicht in der Lage zu sein, einen weiteren
Kontrollverlust im Schwarzen Meer zu Gunsten der NATO dauerhaft
aufzuhalten. Das zeigt die Aufgabe der Blockfreiheit durch das
ukrainische Parlament im Dezember 2014 und die Bekräftigung der
Absicht durch die ukrainischen Regierung, Teil des NATO-Bündnisses
werden zu wollen.
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Seerouten in der Arktis, Bildquelle: thearcticinstitute.org |
Dennoch
besitzt Russland einen gewaltigen Küstenstreifen der sich von Europa
bis Asien, vom Atlantik zum Pazifik erstreckt. Sie umfasst im
Westen die Barentssee, in der Mitte die Kara-See, die durch zwei
Meerengen begrenzt ist, sowie die Laptev-See und im Osten die
Ostsibirische See und das Bering-Meer. Wenn sie eisfrei ist, verkürzt
diese Nordostpassage den Seeweg von Europa nach Asien im Vergleich zu
der klassischen Route durch den Suez-Kanal erheblich. Darüber hinaus
münden hier zahlreiche Flüsse, die weit in die wenig zugänglichen
Gebiete der russischen Taiga hineinreichen, wie Petschora, Ob oder
Jenissei und erschließen die rohstoffreichen Gegenden Sibiriens, des
Ural-Gebietes oder des Fernen Ostens Russlands. Darüber hinaus
liegen in den Seegebieten selbst, vor allem der Kara-See, bedeutende
Rohstoff-Vorkommen, deren Erschließung Russland derzeit in Angriff
nimmt.
Bislang
wurde die Passage schon in überschaubarem Umfang genutzt, vor allem
zu Sowjetzeiten. Die wirtschaftliche Nutzung muss aber meist von
Eisbrechern abgesichert werden und ist wegen des rauen Klimas auch
sonst aufwendig und teuer. So ging mit dem Zerfall der Sowjetunion
ein erheblicher Verlust der Infrastruktur einher, weil Eisbrecher
nicht mehr betrieben wurden und Häfen wie Dikson stark an Einwohnern
verloren und verfielen. Auch militärstrategisch war die Passage nie
gänzlich unbedeutend, auch wenn sie von Überwasser-Einheiten nur in
eng begrenztem Umfang befahren werden konnte. So nutzte 1940 sogar
die deutsche Kriegsmarine die Nordostpassage, um mit Hilfe russischer
Eisbrecher den Hilfskreuzer „Komet“ in den Pazifik zu überführen,
der dort Handelskrieg gegen die alliierte Schifffahrt führte. Im
Kalten Krieg waren es vor allem die strategischen Atom-Uboote der
Sowjet-Marine, die die langgestreckten Hoheitsgewässer nutzten, um
möglichst unerkannt in die Weiten der Meere zu entkommen, auch wenn
dieser Vorteil durch die zahlenmäßige Überlegenheit amerikanischer
Jagd-Uboote reduziert wurde.
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Rohstoffe in der russischen Arktis, Bildquelle: thearcticinstitute.org |
Mit
dem Abschmelzen des nordpolaren Eises verbessert sich die
Schiffbarkeit heute aber stetig weiter. 2013 wurden bereits über 70
kommerzielle Komplett-Passagen gezählt, eine deutliche
Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren.
Für
Rohstoffnationen wie Norwegen wäre dieser Seeweg eine Möglichkeit,
die asiatischen Märkte etwa in Japan schneller bedienen zu können.
Vor allem aber die eigenen russischen Ressourcenlagerstätten (mehr
als 90% der russischen Rohstofflagerstätten entfallen auf den
arktischen und subarktischen Raum) könnten deutlich besser
ausgebeutet werden, gerade der Transport
von Flüssiggas (LNG) durch Spezialschiffe erlebt seit einigen
Jahren einen regelrechten Boom. Das wäre vor allem im Hinblick auf
den rasant wachsenden asiatischen Energiemarkt für Russland
attraktiv, das bisher durch sein Pipeline-Netz vor allem den
westeuropäischen Markt im Auge hatte.
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LNC-Tanker in der Nordostpassage 2014
Bildquelle: worldmaritimenews.com
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Die
bisherige Infrastruktur im Fernen Osten Russland lässt nämlich
insgesamt noch stark zu wünschen übrig. So gilt etwa die
Transsibirische Eisenbahn als deutlich überlastet und der Transport
über den Seeweg wäre eine dringend nötige Ergänzung.
Die
wachsende Bedeutung der Nordostpassage hat Russland erkannt und
unterstreicht dies durch eine deutliche Erweiterung der rechtlichen
Regelungen für seinen „nördlichen
Seeweg“. So
versucht die russische Regierung, die Meerengen umfassender zu
kontrollieren, obwohl ihre Durchfahrt, selbst in der Kara-Straße,
nach dem Seerechtsübereinkommen eigentlich nicht in die russische
12-Meilen-Zone fällt. Man behilft sich mit Anweisungen zu Eisbrecher-
oder Lotsenpflicht oder generellen Sicherheitsbestimmungen. Dies
musste etwa 2013
das Greenpeace-Schiff „Arctic Sunrise“ erfahren, dem die
russischen Behörden mit Verweis auf angeblich mangelnde
Eisgängigkeit die Einfahrt in die Kara-See verweigerten.
Nach
der klassischen Seemachts-Definition von Sam Tangredi müsste
Russland mit der Nordostpassage einen entscheidenden Trumpf im Ärmel
haben. Bisweilen ist sogar von einem neuen russischen Suezkanal die
Rede. Stimmt das?
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Die Suezroute und die Nordostpassage im
Vergleich
Bildquelle: usni.org
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Die
entscheidende Voraussetzung wäre, dass sich das Verkehrsaufkommen
und damit die Bedeutung des Seeweges noch erheblich steigert. Bislang
bleibt der Suezkanal die wichtigste Verbindungsstrecke zwischen Ost
und West mit jährlich über 18.000
Passagen. Daran dürfte sich auch so schnell nichts ändern. Der
Grund liegt vor allem in dessen ganzjähriger Nutzung und der
Planbarkeit, denn die Nordostpassage kann in den Wintermonaten nicht
befahren werden und niemand kann zuverlässig vorhersagen, in welchem
Monat das Eis weit genug zurückgegangen ist, um eine sichere
Durchfahrt gewährleisten zu können. Denn auch wenn das Eis im
Mittel zurückgeht, besteht eine erhebliche Schwankungsbreite.
Darüber
hinaus sind wegen fehlender Häfen kaum Zwischenstopps und damit kaum
Handelsmöglichkeiten vorhanden. Die Durchfahrt würde – anders als
auf der Suezroute – weitgehend als Nonstop-Passage erfolgen. Das
macht sie für die Reeder unattraktiver, weil die Schiffe möglichst
komplett ausgelastet sein sollten, was auf langen Strecken
komplizierter ist.
Daneben
erwächst dem russischen nördlichen Seeweg mit dem Abschmelzen des
Eises auch zusätzliche Konkurrenz in Form der Nordwest-Passage durch
das kanadische Archipel, die zwar auf der Referenz-Strecke von
Yokohama nach Rotterdam 1000 Seemeilen länger und schwieriger ist,
aber auch Russlands Spielraum, mit seinem Seeweg Machtpolitik zu
betreiben, erheblich einengt.
Welcher
Reeder würde sich schon einem willkürlichen russischen
Durchfahrtsregime unterwerfen wollen, wenn es genug
Ausweichmöglichkeiten gibt?
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Öl- und Gasvorkommen in der Kara-See, Quelle: rosneft.com |
Zu
guter Letzt kann Russland zwar die Zugänge zum Kara-Meer
kontrollieren, aber im europäischen Nordmeer, mit der
Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland und weiter zwischen
Island, den Färöern und
den Shetlandinseln übernehmen wieder
die NATO-Staaten. Im Osten muss man sich die Kontrolle der
Beringstraße mit den USA, im japanischen Meer mit Japan und
Südkorea teilen. Außerdem verläuft der direkteste Weg nördlich an
der Kara-See vorbei, sodass die Kara-Straße ohnehin nur befahren
wird, wenn die Eisverhältnisse zu schlecht sind. Dann aber ist eine
Durchfahrt meist insgesamt so schwierig, dass sie ohnehin nur schwer
zu realisieren wäre.
Darüber hinaus
erfordert die wirtschaftliche Nutzung der Gebiete des nördlichen
Seeweges erhebliche Investitionsanstrengungen. Nicht nur um die klimatischen
Herausforderungen in den Griff zu bekommen, sondern auch um
hausgemachte Probleme zu beseitigen: So wurden ausgemusterte
Atom-Uboote
der Sowjetmarine einfach im Kara-Meer versenkt, ausgerechnet
dort, wo man zukünftig nach Öl und Gas bohren will. Diese Risiken
müssen erst einmal umfangreich beseitigt werden, bevor man sich
überhaupt an die nicht weniger kostenintensive Ausbeutung wagen
kann. Partner ExxonMobil
ist 2014 bereits abgesprungen.
Es
bleibt also fraglich, ob Russland angesichts niedriger Ölpreise und
der finanziellen Krise in die das Land derzeit abrutscht, diese
Investitionen überhaupt noch schultern kann und ob sie sich dann
wirtschaftlich überhaupt rechnen.
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Russischer Kreuzer "Peter der
Große" in der Arktis
Bildquelle: militaryphotos.net
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Dennoch bietet sich
für Russland die Möglichkeit, im Handel mit dem asiatischen Raum,
vor allem China, eine deutlich größere Rolle zu spielen als zuvor. Das gilt insbesondere für den Handel mit fossilen
Rohstoffen wie Flüssiggas, der Russland von dem zweischneidigen
Schwert der Gasversorgung anderer Staaten durch Pipelines über
Drittstaaten (etwa Ukraine) unabhängiger macht. So kann Russland
besser einen globalen Markt bedienen, anstatt von den Abnehmern in
Europa abhängig zu sein, die sich ihrerseits ja gerade aus der
russischen Gasabhängigkeit befreien wollen. Auch für China dürfte
eine Alternativroute nicht unattraktiv sein. Für die traditionelle
Suez-Kanal-Strecke haben EU und NATO mit den Marineoperationen „Ocean
Shield“, „ATALANTA“ und „Enduring Freedom“ deutlich
gemacht, dass sie die Kontrolle über diesen Seeweg auch militärisch
abzusichern bereit sind. Sie richten sich zwar gegen Terrorismus und
Piraterie, implizieren aber dennoch, dass man sich diese Passage auch
geopolitisch nicht streitig machen lässt. Als erklärte Neu-Seemacht
mit einem ambitionierten Flottenprogramm könnte China mit seinem
russischen Partner also eine Alternativroute vor allem im Bereich der
eigenen Rohstoffversorgung kontrollieren.
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Entwicklung der Frachtraten auf der
Nordostpassage:
Steigend, aber noch nicht auf dem
Niveau der Sowjetzeit
Quelle: arctic-lio.com
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Auch
wenn die Nordostpassage kaum zum zweiten Suez-Kanal und Russland
dadurch ebenso wenig zu einer neuen Seesupermacht aufsteigen wird,
erlangt die russische Föderation doch eine Reihe neuer Möglichkeiten
und einen deutlich besseren maritimen Spielraum. Das mag nicht so
sehr gelten, wenn man den Fokus auf Europa legt, vielleicht aber dann,
wenn man ihn stattdessen Richtung Asien und vor allem auf China lenkt. Zum Schluss sollte man sich auch vor Augen führen, dass
über dem Suez-Kanal immer das Damokles-Schwert einer islamistischen Bedrohung
schwebt. Der Klimawandel wird nicht nur den Eisgürtel des nördlichen
Polarmeeres beeinflussen, sondern zu einem gewissen Grad auch die
politische Stabilität in Nordafrika. Für den Fall der Fälle hat
Russland also kein falsches Ass im Ärmel.
Knut Kollex studiert Politikwissenschaft, schleswig-holsteinische und
nordeuropäische Geschichte an der CAU Kiel. Zu seinen
Interessenschwerpunkten zählen - neben maritimen Themen - Fragen der
Staatlichkeit und die Analyse politischer Risiken.
Ein passender Artikel ist heute in der Newsweek erschienen. Russland sieht Chancen in der Arktis. Großmacht-Aspirationen werden stärker. Allerdings sollte auch beachtet werden, dass irgendjemand die Security- und Safety-Funktion übernehmen muss. Wer, wenn nicht Russland?
AntwortenLöschenhttp://www.newsweek.com/2015/01/16/putin-makes-his-first-move-race-control-arctic-296594.html?utm_medium=email&utm_source=emea-email&=