Samstag, 3. Januar 2015

Der Schutz von Tiefseekabeln – ein unmögliches Unterfangen?

Die ganze Welt ist heute durch Tiefseekabel vernetzt
(Quelle:https://www.flickr.com/photos/caseorganic/5944449945)

Mittlerweile umspannt ein Netz von Unterseekabeln den gesamten Globus. Mit Ausnahme der Antarktis, die aufgrund der widrigen Temperaturverhältnisse im Südlichen Ozean kein geeigneter Ort für die Verlegung von optischen Glasfaserkabeln ist, sind alle Kontinente unterseeisch miteinander verbunden. Nahezu der gesamte internationale Datenverkehr der Welt fließt durch diese Tiefseekabel, die im Vergleich zu Satelliten größere Datenvolumen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit transportieren können und zudem wesentlich preiswerter sind. Doch wie kann eine derart komplexe Kabelinfrastruktur, deren Gesamtlänge mehrere Hunderttausend Kilometer umfasst, effektiv geschützt werden? Angesichts ihrer Verwundbarkeit und der diffusen Gefahren, die sie bedrohen, gestaltet sich diese Aufgabe als schwierig. 75% der Störungen lassen sich nicht auf technische Ursachen, sondern auf äußere Umstände zurückführen.

Menschengemachte und natürliche Bedrohungen

Ein Schiff bei der Verlegung von Unterseekabeln 
(Quelle: https://www.flickr.com/photos/guerric/5909138711)
Tiefseekabel werden durch speziell ausgerüstete Schiffe verlegt. Ihrer Verlegung geht eine detaillierte Untersuchung der Beschaffenheit des Meeresbodens vor, durch den die Kabeltrasse führen soll. Der Verlauf von Naturschutzgebieten und Schifffahrtsrouten sowie geophysikalische Faktoren werden hierbei berücksichtigt. Die Ummantelung und die Verlegungsart der Seekabel variieren je nach Trassenabschnitt. In seichten Küstengewässern, wo die Seekabel den Bedrohungen menschlichen Handelns wie ankernden Schiffen und Fischereigeräten ausgesetzt sind, haben sie einen größeren Durchmesser und sind etwa so dick wie eine Getränkedose. Bei weichem Grund werden sie mittels eines Hochdruckstrahls in den Küstenboden versenkt, während bei einem festeren Meeresboden ein Verlegepflug erforderlich ist. In der Tiefsee liegen die wesentlich dünneren Kabel (ihr Durchmesser beträgt etwa den eines Filzstifts) hingegen frei auf dem Ozeanboden. Doch nicht nur anthropogene Gefahren lauern auf die Unterseekabel, auch vor Haiangriffen sind sie nicht gefeit. Warum die Meeresraubtiere von den maritimen Glasfaserkabeln angezogen werden, ist nicht abschließend geklärt. Denkbar ist, dass sie die elektromagnetischen Felder, die von den Kabeln ausgehen nicht von jenen biologischen Feldern zu unterscheiden vermögen, die von Fischen ausgestrahlt werden. Um den Schaden, den die Bisse von Haien verursachen können, möglichst gering zu halten, setzt Google seit Kurzem auf  die zusätzliche Beschichtung seiner Unterseekabel mit Kevlar. Dieser extrem feste und bruchsichere Kunststoff, der auch für schusssichere Westen und Fahrzeugpanzerungen verwendet wird, soll der Kabelummantelung beigefügt werden und für Abhilfe sorgen. Geologischen Bedrohungen wie Unterseebeben, Erdrutschen, Verschiebungen von Kontinentalplatten und Taifunen kann durch derartige Präventionsmaßnahmen nicht begegnet werden. Was hier allerdings helfen kann, ist die Errichtung mehrerer Kabeltrassen: je mehr Unterseekabel für dieselbe Verbindung zuständig sind, desto leichter ist es im Falle eines Ausfalls auf ein intaktes Kabel auszuweichen. Dass sich die Installation eines solchen Backup-Netzwerks bewährt, zeigte sich im Zuge der Tsunamikatastrophe 2011 in Japan, dessen Kabelinfrastruktur nur aus diesem Grund nicht lahmgelegt wurde. Der Datenverkehr der Entwicklungsländer an der afrikanischen Ostküste und geographisch entlegener Staaten wie Tonga und Vanuatu, die erst in den vergangenen Jahren von der Satellitentechnologie auf die Tiefseekabel umgestiegen sind und bisher nur vereinzelte Kabel installiert haben, ist daher viel verwundbarer als die internationale Kommunikation der Industrieländer.

Schreckensvision: maritimer Terrorismus

"WARNING SUBMARINE CABLE CROSSING" - könnten 
Terroranschläge auf Unterseekabel in Zukunft Wirklichkeit 
werden? 
(Quelle:https://www.flickr.com/photos/vogelium/2072176623)

Abgesehen von der Betriebssicherheit (safety) wird im Zusammenhang mit Unterseekabeln auch über die maritime Sicherheit (security) geredet. Trotz der technischen Schwierigkeiten einen maritimen Terroranschlag durchzuführen, erscheint dieses Bedrohungsszenario vielen als gar nicht so unwahrscheinlich. Insbesondere der 19-stündige Internetausfall in Syrien 2012, der vermeintlich auf eine Sabotage durch „Terroristen“ zurückzuführen sei und der versuchte „Anschlag“ auf ein Unterseekabel vor der ägyptischen Küste 2013 haben der Weltöffentlichkeit die Verwundbarkeit des internationalen Datenverkehrs vor Augen geführt. Auch wenn die von der syrischen Regierung und den ägyptischen Behörden genannten Ursachen für diese Vorfälle wahrscheinlich jeder Grundlage entbehren, könnte der Eindruck entstehen, dass Anschläge auf Unterseekabel unmittelbar bevorstehen. Das Backup-Netzwerk der Tiefseekabel sorgt hier allerdings für Entwarnung. Es würde schon einer logistischen Meisterleistung bedürfen die gesamte Kabelinfrastruktur eines Landes lahmzulegen. Was hingegen eine reale, wenn auch nicht unbedingt wahrscheinliche Bedrohung darstellt, ist die relative Exponiertheit der Landestationen, in die die Unterseekabel münden, wenn sie die Küste erreichen. Mit Ausnahme Großbritanniens, das durch ständige Patrouillen die Sicherheit dieser Stationen gewährleistet, besteht bei anderen Ländern, darunter auch den USA, hier durchaus Handlungsbedarf.  


Dóra Simon ist Studentin im Masterstudiengang "Internationale Politik und Internationales Recht" an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Schwerpunkten europäische Integration sowie Völkerstrafrecht.

Freitag, 2. Januar 2015

Ri[gh]t(es) of Passage – Russlands nördlicher Seeweg

Über Jahrhunderte kennzeichnete der „Drang zum Meer“ die russische Außen- und Expansions-politik. Peter der Große errichtete 1703 die neue Hauptstadt seines Reiches, St. Petersburg, bewusst am neu gewonnenen Zugang zur Ostsee. 
In zahlreichen Auseinandersetzungen wie etwa dem Großen Nordischen Krieg gegen Schweden hatte Russland diesen Zugang zur Ostsee erzwungen und behaupten können. Ebenso gelang es, sich im 18. Jahrhundert gegen den Widerstand des osmanischen Reiches und dessen Verbündeten, dem Krimkhanat, den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern und sich ein Gebiet um die Halbinsel Krim unter dem heute wieder populären Namen „Neurussland“ einzuverleiben. Im 19. Jahrhundert gelangte Russland schließlich an den Pazifik und sicherte sich im Vertrag von Aigun 1858 Teile der Mandschurei von China, in dessen Folge die Stadt Wladiwostok am japanischen Meer gegründet wurde.
Das historische Ziel, der Zugang zum Meer, war erreicht. Dennoch haben diese Erfolge bis heute für Russland einen entscheidenden Schönheitsfehler: Die Zugänge zu diesen Seegebieten waren und werden von anderen Staaten kontrolliert, die heute überwiegend Verbündete des Erzrivalen USA sind. So kontrollieren die Ausgänge aus der Ostsee die NATO-Staaten Dänemark, Norwegen und Deutschland. Der Durchgang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer, der Bosporus, ist Hoheitsgebiet des NATO-Mitglieds Türkei (auch wenn die Durchfahrt bis heute im Vertrag von Montreux von 1936 geregelt bleibt) und auch der pazifische Raum wird von den US-Verbündeten Südkorea und Japan, wenn nicht von den USA selbst kontrolliert. Russland hat zwar Zugänge, aber alle stellen gewissermaßen „Kopfbahnhöfe“ dar. Nirgends kann Russland bedeutende internationale Seewege kontrollieren, sondern muss sich im Gegenteil mit der Kontrolle durch andere Staaten abfinden. Im Schwarzen Meer sieht Russland sich sogar immer stärker in die Defensive gedrängt. 2008 drohte gar die NATO-Mitgliedschaft der ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine, wogegen Russland sich mutmaßlich auch militärisch zur Wehr setzte: So 2008 im kurzen Krieg gegen Georgien, den Russland für sich entscheiden konnte. Seither versucht es, die Konflikte der abtrünnigen Teile Abchasien und Süd-Ossetien mit dem georgischen Mutterland dauerhaft am köcheln zu halten, um die Aufnahme Georgiens in die NATO möglichst lange zu verhindern. Aktuell geschieht dies auch in der Ukraine, von der die für Russland strategisch so wichtige Krim-Halbinsel annektiert wurde und in deren Osten Russland ebenfalls einen Dauerkonflikt zu installieren droht. Dennoch scheint es derzeit nicht in der Lage zu sein, einen weiteren Kontrollverlust im Schwarzen Meer zu Gunsten der NATO dauerhaft aufzuhalten. Das zeigt die Aufgabe der Blockfreiheit durch das ukrainische Parlament im Dezember 2014 und die Bekräftigung der Absicht durch die ukrainischen Regierung, Teil des NATO-Bündnisses werden zu wollen.

Seerouten in der Arktis, Bildquelle: thearcticinstitute.org
Dennoch besitzt Russland einen gewaltigen Küstenstreifen der sich von Europa bis Asien, vom Atlantik zum Pazifik erstreckt. Sie umfasst im Westen die Barentssee, in der Mitte die Kara-See, die durch zwei Meerengen begrenzt ist, sowie die Laptev-See und im Osten die Ostsibirische See und das Bering-Meer. Wenn sie eisfrei ist, verkürzt diese Nordostpassage den Seeweg von Europa nach Asien im Vergleich zu der klassischen Route durch den Suez-Kanal erheblich. Darüber hinaus münden hier zahlreiche Flüsse, die weit in die wenig zugänglichen Gebiete der russischen Taiga hineinreichen, wie Petschora, Ob oder Jenissei und erschließen die rohstoffreichen Gegenden Sibiriens, des Ural-Gebietes oder des Fernen Ostens Russlands. Darüber hinaus liegen in den Seegebieten selbst, vor allem der Kara-See, bedeutende Rohstoff-Vorkommen, deren Erschließung Russland derzeit in Angriff nimmt.
Bislang wurde die Passage schon in überschaubarem Umfang genutzt, vor allem zu Sowjetzeiten. Die wirtschaftliche Nutzung muss aber meist von Eisbrechern abgesichert werden und ist wegen des rauen Klimas auch sonst aufwendig und teuer. So ging mit dem Zerfall der Sowjetunion ein erheblicher Verlust der Infrastruktur einher, weil Eisbrecher nicht mehr betrieben wurden und Häfen wie Dikson stark an Einwohnern verloren und verfielen. Auch militärstrategisch war die Passage nie gänzlich unbedeutend, auch wenn sie von Überwasser-Einheiten nur in eng begrenztem Umfang befahren werden konnte. So nutzte 1940 sogar die deutsche Kriegsmarine die Nordostpassage, um mit Hilfe russischer Eisbrecher den Hilfskreuzer „Komet“ in den Pazifik zu überführen, der dort Handelskrieg gegen die alliierte Schifffahrt führte. Im Kalten Krieg waren es vor allem die strategischen Atom-Uboote der Sowjet-Marine, die die langgestreckten Hoheitsgewässer nutzten, um möglichst unerkannt in die Weiten der Meere zu entkommen, auch wenn dieser Vorteil durch die zahlenmäßige Überlegenheit amerikanischer Jagd-Uboote reduziert wurde.

Rohstoffe in der russischen Arktis, Bildquelle: thearcticinstitute.org

Mit dem Abschmelzen des nordpolaren Eises verbessert sich die Schiffbarkeit heute aber stetig weiter. 2013 wurden bereits über 70 kommerzielle Komplett-Passagen gezählt, eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren.
Für Rohstoffnationen wie Norwegen wäre dieser Seeweg eine Möglichkeit, die asiatischen Märkte etwa in Japan schneller bedienen zu können. Vor allem aber die eigenen russischen Ressourcenlagerstätten (mehr als 90% der russischen Rohstofflagerstätten entfallen auf den arktischen und subarktischen Raum) könnten deutlich besser ausgebeutet werden, gerade der Transport von Flüssiggas (LNG) durch Spezialschiffe erlebt seit einigen Jahren einen regelrechten Boom. Das wäre vor allem im Hinblick auf den rasant wachsenden asiatischen Energiemarkt für Russland attraktiv, das bisher durch sein Pipeline-Netz vor allem den westeuropäischen Markt im Auge hatte.
LNC-Tanker in der Nordostpassage 2014
Bildquelle: worldmaritimenews.com
Die bisherige Infrastruktur im Fernen Osten Russland lässt nämlich insgesamt noch stark zu wünschen übrig. So gilt etwa die Transsibirische Eisenbahn als deutlich überlastet und der Transport über den Seeweg wäre eine dringend nötige Ergänzung.
Die wachsende Bedeutung der Nordostpassage hat Russland erkannt und unterstreicht dies durch eine deutliche Erweiterung der rechtlichen Regelungen für seinen „nördlichen Seeweg“. So versucht die russische Regierung, die Meerengen umfassender zu kontrollieren, obwohl ihre Durchfahrt, selbst in der Kara-Straße, nach dem Seerechtsübereinkommen eigentlich nicht in die russische 12-Meilen-Zone fällt. Man behilft sich mit Anweisungen zu Eisbrecher- oder Lotsenpflicht oder generellen Sicherheitsbestimmungen. Dies musste etwa 2013 das Greenpeace-Schiff „Arctic Sunrise“ erfahren, dem die russischen Behörden mit Verweis auf angeblich mangelnde Eisgängigkeit die Einfahrt in die Kara-See verweigerten.
Nach der klassischen Seemachts-Definition von Sam Tangredi müsste Russland mit der Nordostpassage einen entscheidenden Trumpf im Ärmel haben. Bisweilen ist sogar von einem neuen russischen Suezkanal die Rede. Stimmt das?

Die Suezroute und die Nordostpassage im Vergleich
Bildquelle: usni.org

Die entscheidende Voraussetzung wäre, dass sich das Verkehrsaufkommen und damit die Bedeutung des Seeweges noch erheblich steigert. Bislang bleibt der Suezkanal die wichtigste Verbindungsstrecke zwischen Ost und West mit jährlich über 18.000 Passagen. Daran dürfte sich auch so schnell nichts ändern. Der Grund liegt vor allem in dessen ganzjähriger Nutzung und der Planbarkeit, denn die Nordostpassage kann in den Wintermonaten nicht befahren werden und niemand kann zuverlässig vorhersagen, in welchem Monat das Eis weit genug zurückgegangen ist, um eine sichere Durchfahrt gewährleisten zu können. Denn auch wenn das Eis im Mittel zurückgeht, besteht eine erhebliche Schwankungsbreite.
Darüber hinaus sind wegen fehlender Häfen kaum Zwischenstopps und damit kaum Handelsmöglichkeiten vorhanden. Die Durchfahrt würde – anders als auf der Suezroute – weitgehend als Nonstop-Passage erfolgen. Das macht sie für die Reeder unattraktiver, weil die Schiffe möglichst komplett ausgelastet sein sollten, was auf langen Strecken komplizierter ist.

Daneben erwächst dem russischen nördlichen Seeweg mit dem Abschmelzen des Eises auch zusätzliche Konkurrenz in Form der Nordwest-Passage durch das kanadische Archipel, die zwar auf der Referenz-Strecke von Yokohama nach Rotterdam 1000 Seemeilen länger und schwieriger ist, aber auch Russlands Spielraum, mit seinem Seeweg Machtpolitik zu betreiben, erheblich einengt.
Welcher Reeder würde sich schon einem willkürlichen russischen Durchfahrtsregime unterwerfen wollen, wenn es genug Ausweichmöglichkeiten gibt?
Öl- und Gasvorkommen in der Kara-See, Quelle: rosneft.com
Zu guter Letzt kann Russland zwar die Zugänge zum Kara-Meer kontrollieren, aber im europäischen Nordmeer, mit der Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland und weiter zwischen Island, den Färöern und den Shetlandinseln übernehmen wieder die NATO-Staaten. Im Osten muss man sich die Kontrolle der Beringstraße mit den USA, im japanischen Meer mit Japan und Südkorea teilen. Außerdem verläuft der direkteste Weg nördlich an der Kara-See vorbei, sodass die Kara-Straße ohnehin nur befahren wird, wenn die Eisverhältnisse zu schlecht sind. Dann aber ist eine Durchfahrt meist insgesamt so schwierig, dass sie ohnehin nur schwer zu realisieren wäre.
Darüber hinaus erfordert die wirtschaftliche Nutzung der Gebiete des nördlichen Seeweges erhebliche Investitionsanstrengungen. Nicht nur um die klimatischen Herausforderungen in den Griff zu bekommen, sondern auch um hausgemachte Probleme zu beseitigen: So wurden ausgemusterte Atom-Uboote der Sowjetmarine einfach im Kara-Meer versenkt, ausgerechnet dort, wo man zukünftig nach Öl und Gas bohren will. Diese Risiken müssen erst einmal umfangreich beseitigt werden, bevor man sich überhaupt an die nicht weniger kostenintensive Ausbeutung wagen kann. Partner ExxonMobil ist 2014 bereits abgesprungen.
Es bleibt also fraglich, ob Russland angesichts niedriger Ölpreise und der finanziellen Krise in die das Land derzeit abrutscht, diese Investitionen überhaupt noch schultern kann und ob sie sich dann wirtschaftlich überhaupt rechnen.

Russischer Kreuzer "Peter der Große" in der Arktis
Bildquelle: militaryphotos.net

Dennoch bietet sich für Russland die Möglichkeit, im Handel mit dem asiatischen Raum, vor allem China, eine deutlich größere Rolle zu spielen als zuvor. Das gilt insbesondere für den Handel mit fossilen Rohstoffen wie Flüssiggas, der Russland von dem zweischneidigen Schwert der Gasversorgung anderer Staaten durch Pipelines über Drittstaaten (etwa Ukraine) unabhängiger macht. So kann Russland besser einen globalen Markt bedienen, anstatt von den Abnehmern in Europa abhängig zu sein, die sich ihrerseits ja gerade aus der russischen Gasabhängigkeit befreien wollen. Auch für China dürfte eine Alternativroute nicht unattraktiv sein. Für die traditionelle Suez-Kanal-Strecke haben EU und NATO mit den Marineoperationen „Ocean Shield“, „ATALANTA“ und „Enduring Freedom“ deutlich gemacht, dass sie die Kontrolle über diesen Seeweg auch militärisch abzusichern bereit sind. Sie richten sich zwar gegen Terrorismus und Piraterie, implizieren aber dennoch, dass man sich diese Passage auch geopolitisch nicht streitig machen lässt. Als erklärte Neu-Seemacht mit einem ambitionierten Flottenprogramm könnte China mit seinem russischen Partner also eine Alternativroute vor allem im Bereich der eigenen Rohstoffversorgung kontrollieren.

Entwicklung der Frachtraten auf der Nordostpassage:
Steigend, aber noch nicht auf dem Niveau der Sowjetzeit
Quelle: arctic-lio.com


Auch wenn die Nordostpassage kaum zum zweiten Suez-Kanal und Russland dadurch ebenso wenig zu einer neuen Seesupermacht aufsteigen wird, erlangt die russische Föderation doch eine Reihe neuer Möglichkeiten und einen deutlich besseren maritimen Spielraum. Das mag nicht so sehr gelten, wenn man den Fokus auf Europa legt, vielleicht aber dann, wenn man ihn stattdessen Richtung Asien und vor allem auf China lenkt. Zum Schluss sollte man sich auch vor Augen führen, dass über dem Suez-Kanal immer das Damokles-Schwert einer islamistischen Bedrohung schwebt. Der Klimawandel wird nicht nur den Eisgürtel des nördlichen Polarmeeres beeinflussen, sondern zu einem gewissen Grad auch die politische Stabilität in Nordafrika. Für den Fall der Fälle hat Russland also kein falsches Ass im Ärmel. 



Knut Kollex studiert Politikwissenschaft, schleswig-holsteinische und nordeuropäische Geschichte an der CAU Kiel. Zu seinen Interessenschwerpunkten zählen - neben maritimen Themen - Fragen der Staatlichkeit und die Analyse politischer Risiken.  

Räume für Titanen aus Stahl - Offshore-Förderplattformen als Ursachen für Konflikte

Sie wiegen Zehntausende und kosten Milliarden. Offshore Bohrinseln sind Städte, die nicht auf dem Territorium eines Landes stehen. Auf ihnen leben Menschen und von ihnen leben Menschen. Seit sechzig Jahren bringen sie für unsere Zivilisation Öl und Gas – Energie. Bild: Oilguru
 Riesen aus Stahl. Beine, so dick wie ein Haus und so lang wie die höchsten Wolkenkratzer. Ein Körper, durchzogen von Rohren und Kabeln mit nur einem Zweck: Öl aus Tiefen zu fördern, die einen Menschen schon hundertfach zerquetscht hätten, bevor er zu ihnen gelangt wäre: Offshore Bohrinseln. Es sind Titanen, die unsere Zivilisation tragen, indem sie uns mit Öl, Gas und bald auch Metallen versorgen. Und die neusten Titanen kosten Hundertsechzigtausend Dollar – jeden Tag.
Hunderte Menschen leben auf ihnen: Handwerker, Ingenieure, Köche und die, die die Wäsche machen für die Handwerker, Ingenieure und Köche. Es sind kleine Städte auf dem Meer. Und das Meer ist ein lebensbedrohlicher Ort. Seit Menschen Offshore nach Öl und Gas bohren, fürchten sie Stürme und technische Fehler. Doch nach und nach gewinnt der Mensch mit neuer Technik den Kampf gegen die Kräfte der Natur. Heute sind Offshore Plattformen vor den Naturgewalten weitesgehend sicher und die Natur muss ihrerseits Fehler der Betreiber ausbaden. 2010 führte ein Defekt an der Plattform Deepwater Horizon zur größten Ölverschmutzung derGeschichte.
Für den Bürger an Land war die Deepwater Horizon Katastrophe auch die letzte und einzige Geschichte, die er über Offshore-Förderanlagen mitbekommen hat. Die Plattformen waren schon länger sturmfest geworden, es gab nichts anderes von Besonderheit im regelmäßigen Geschäft auf hoher See, bis 2010 die Katastrophe kam.
Der Kampf gegen die See ist weitesgehend gewonnen. Aber der Kampf um die See und um die besten Plätze für die Offshore Plattformen hat begonnen. Im Frühjahr letzten Jahres sendete China zwei seiner schlagkräftigsten Kriegsschiffe, die Kunlunshan und die Jinggangshan in das Südchinesische Meer, vor die vietnamesische Küste. Sie sollten eine Ölplattform schützen, die China dort platzieren wollte.  An Weihnachten gab Israel bekannt, dass es vier Fregatten anschaffen will, die eingesetzt werden sollen, um Israels Offshore Plattformen im Mittelmeer zu schützen. Zu diesem Zweck patrouillieren seit 2012 große Teile der israelischen Marine dort. Kanada baut entgegen aller Klischees über seinen friedliebenden Nationalcharakter eine Marine auf, die in der Arktis kanadische Ansprüche vor alle gegen Russland verteidigen soll, das seinerseits Teile seines Militärs in die nördlichsten Bereiche seines Landes verlegt.
Das zeigt: Industrialisierte Staaten sehen den bewaffneten Kampf um Ressourcen auf hoher See als realistische Zukunft und wollen darauf vorbereitet sein. Längst sehen sie nicht mehr nur Terroristen als Gefahr für die maritime Sicherheit, sondern andere Staaten. Israel fürchtet Angriffe der Marinen seiner Nachbarstaaten auf seine Energieversorgung. China will seine Ansprüche gegen alle anderen asiatischen Staaten durchsetzen: Japan im Osten und Vietnam, Korea, Malaysia, die Philippinen aber auch Indonesien im Süden. Die berühmt-berüchtigte Neun-Punkte-Linie Chinas überlagert sich hier mit den Anspruchszonen, die durch das UN-Seerechtsabkommen von 1982 festgelegt worden waren. Noch ist der Arktische Rat offiziell optimistisch, dass sie die Arktis friedlich aufteilen können.
Auf dem ganzen Erdball führt die Knappheit der Rohstoffe dazu, dass die Staaten auf hohe See schauen, um die Versorgung ihrer Zivilisation mit Wärme, Transportmitteln und allerlei elektronischen Gerätschaften sicherzustellen. Ein Blick auf den Globus und eine Linien, die man zweihundert Meilen von jeder Landmasse zieht, zeigen die Sphären der Wirtschaftsinteressen der Küstenstaaten. Jede kleine Insel löst eine zweihundert Meilen Zone aus. In diese Zone mindestens können die Staaten ihre staatliche Souveränität ausweiten wollen.
"The whole issue of 'economic waters' actually triples the size of Israel, but also creates strategic threats not only concerning the rigs and those working there, but also a threat to Israel's energy supply," said a senior naval officer. "A possible strike against the rigs is a nightmare scenario." Zitat: Haaretz 9. Jan. 2012; Bild: Rigzone.com
Das 21. Jahrhundert wird mit wirtschaftlicher Prosperität einhergehend erleben, wie Staaten ihre Territorial verankerte Souveränität auf Bereiche der hohen See übertragen wollen. Kann das Völkerrecht Schritt halten?
Die Gründe für Konflikte verstärken sich. Bald ist es nicht nur Öl und Gas, das Offshore gefördert wird: auch Metalle verbergen sich in den Tiefen der Meere - und alle wollen ein Stück vom Kuchen. Aber gleichzeitig verstärken sich auch die Gründe für eine friedliche Belegung der Konflikte: So eine Offshore Plattform mit all der dazugehörigen Infrastruktur wird Milliarden von Dollar kosten. Zusätzlich kommt der durch die gewonnenen Rohstoffe riskierte Nutzen für die Volkswirtschaft. Wenn alle Staaten solche Plattformen besitzen, sollten sie sich gegenseitig nicht die Risikokosten erhöhen wollen. Logisch wäre daher eine friedliche Einigung zum Nutzen aller Beteiligter. Aber irrationales Verhalten kann diese Rechnung immer stören. Und ein Staat, der keine Offshore Plattformen hat, hat auch nichts zu verlieren, und alles zu gewinnen, wenn er die Arterie der Wirtschaft seines Gegners auf hoher See kappen kann.
Die Konflikte auf hoher See werden zunehmen, während die Staaten ihre Interessensphären gegeneinander abzugrenzen versuchen. Es bleibt die Frage zu untersuchen, ob die Vermehrung der Offshore Anlagen als Katalysator für die Entwicklung des Völkerrechts dienen kann. Milliarden-Dollar Investments und die Versorgungssicherheit der Weltwirtschaft sollte als Interesse Vorrang haben vor nationalistischen Kurzsichtigkeiten und so den Frieden auf See bewahren.
Tim Bergmann studiert im Masterstudiengang "Internationale Politik und Internationales Recht" an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit Schwerpunkt auf Sicherheitspolitik. Zuvor studierte er Politikwissenschaft und Geschichte in Dresden.

Mittwoch, 31. Dezember 2014

UNCLOS und die USA – a never-ending story?

Auch wenn den Vereinigten Staaten ihre alleinige Seeherrschaft allmählich streitig gemacht wird und mit dem Aufstieg Chinas vom Anbruch des pazifischen Jahrhunderts gesprochen werden kann, sind die USA weiterhin eine Ordnungsmacht der Weltmeere. Seit Mitte der neunziger Jahre ist einer der Kernbestandteile der US-Politik im Südchinesischen Meer die Einhaltung des internationalen Rechts und insbesondere die Wahrung der Prinzipien des Seerechtsübereinkommens (UNCLOS). Das hört sich sehr vernünftig an, denn mit mittlerweile 166 Vertragsstaaten sollte man auch im Südchinesischen Meer nicht umhinkommen UNCLOS zu beachten. Wenn man sich die Liste der Vertragsparteien des Seerechtsübereinkommens anschaut, fühlt man sich bestätigt: alle Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres gehören dazu. Man kann sogar einen Schritt weitergehen und das Ostchinesische Meer, das heutzutage aufgrund von Inselstreitigkeiten zunehmend in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückt, unter die Lupe nehmen. Auch hier wurde UNCLOS von nahezu allen betroffenen Staaten ratifiziert. Doch ausgerechnet die USA, die die Wahrung der Vorgaben des Seerechtsübereinkommens fordern, sind nicht auf der Liste der Vertragsparteien vorzufinden. Doch was hielt und hält die USA bis heute davon ab der Konvention beizutreten und welche Vor- und Nachteile könnten den Vereinigten Staaten aus einer Ratifikation erwachsen? 

Mehrere Anläufe zur Ratifikation
Die ursprüngliche Haupstorge der USA: eine Internationale
Meeresbodenbehörde zur Umverteilung maritimer Ressourcen
(Quelle:http://commons.wikimedia.org/)

Bereits gegen Ende der Vertragsverhandlungen zum Seerechtsübereinkommen zeichnete sich ab, dass die Vereinigten Staaten der Konvention in ihrer damaligen Form nicht zustimmen werden. Während der Großteil des Vertragstexts auf Völkergewohnheitsrecht fußt und folglich auch in den USA Akzeptanz findet, stießen die UNCLOS-Bestimmungen zum Tiefseebergbau auf Ablehnung. Inakzeptabel für die USA waren die Vorgaben zur Umverteilung der Gewinne aus dem Tiefseebergbau, die sich aus dem Status des Tiefseebodens als gemeinsames Erbe der Menschheit ableiten lassen. „The United States is deeply concerned about the grave dangers of legitimizing this socialist concept by signing the LOS Treaty.” Dass diese Redistribution der maritimen Ressourcen durch eine internationale Behörde als „inefficient international bureaucracy“ erfolgen sollte, sorgte für weiteren Unmut. Den fundamentalen Sorgen der USA begegnete man 1994 durch Vertragsänderungen. Diese veranlassten viele Industriestaaten, die ihre Zustimmung bisher aus ähnlichen Erwägungen verweigert hatten, zur Ratifikation von UNCLOS. Noch im selben Jahr legte Präsident Clinton die Konvention dem Senat vor. Trotz mehrerer Kongressanhörungen und der Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses des Senats scheiterte das Vorhaben. Seither wurden sowohl unter der Bush- als auch unter der Obama-Administration mehrere Anläufe unternommen, dem Seerechtsübereinkommen beizutreten. Obwohl es eine parteiübergreifende Unterstützung für das Vorhaben gibt, ist UNCLOS seit genau zwei Jahrzehnten vor dem Senat anhängig. Zuletzt wurde die Debatte 2012 wieder aufgegriffen, allerdings ohne Erfolg. Doch welche Einwände werden von den heutigen UNCLOS-Gegnern hervorgebracht, wenn die ursprünglichen Bedenken gegen die Konvention bereits durch die 1994-er Vertragsänderungen zerstreut wurden?

Vorteile und (vermeintliche) Nachteile eines UNCLOS-Beitritts

Auch die U.S. Marine befürwortet den Beitritt zu UNCLOS
(Quelle:http://commons.wikimedia.org/)
Bis heute wird gerne und oft der potentielle Souveränitätsverlust heraufbeschworen, den die USA aufgrund der weitreichenden Kompetenzen der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) erleiden würden. Dieser Einwand wird durch die 1994-er Vertragsänderung entkräftet, die den USA im Falle einer Ratifikation eine Vetoposition bei der ISA zusichert. Diese Diskussion dreht sich streng genommen gar nicht um das  Vertragsregime von UNCLOS, sondern widerspiegelt eher eine generelle Debatte in den USA, die zwischen den Souveränitätsanhängern und den Internationalisten geführt wird. Nach dem zweiten, etwas nebulösen Argument sollten die USA dem Seerechtsübereinkommen fernbleiben, da sie sich ungewollt an die in den vergangenen Jahren von China betriebene Interpretation des Übereinkommens binden würden. Jeder, der etwas von Völkergewohnheitsrecht versteht, wird wissen, dass eine einseitige Auslegung allein, ohne eine gängige Staatenpraxis und einer zusätzlichen Rechtsüberzeugung nichts bewirken kann. Selbst wenn dem so wäre, könnten die USA außerhalb des Konventionsrahmens herzlich wenig dagegen unternehmen. Abgesehen davon, dass die geäußerten Bedenken unbegründet zu sein scheinen, verkennen die UNCLOS-Gegner die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Vorteile eines Beitritts zur Konvention. Zwar beteuern sie, dass der Ressourcenabbau sowohl am erweiterten Festlandsockel als auch auf dem Tiefseeboden ohne UNCLOS-Beitritt möglich sei. Diese vermeintlichen Chancen werden jedoch aufgrund eines unsicheren Investitionsklimas nicht genutzt. Doch nicht nur die Wirtschaft beklagt bestehende Rechtsunsicherheiten, auch die Marine fordert aus denselben Gründen den Beitritt zur Konvention. Dieser Beitritt liegt gemäß dem Auswärtigen Ausschuss des Senats sogar „profoundly in the national interest“. In einem Sonderbericht des US-amerikanischen Think Tanks Council on Foreign Relations wird en Detail ausgeführt, warum diese Aussage durchaus der Realität entspricht. Auf der Hand liegt, dass die Forderung nach multilateralen Lösungsansätzen im pazifischen Raum, um die chinesische Seeherrschaft in Balance zu halten, durch das unilaterale Handeln der USA untergraben wird. Fakt ist des Weiteren, dass durch das Fernbleiben von UNCLOS die ohnehin brüchige Führungsrolle der USA im Pazifik von ihren Alliierten und strategischen Partnern noch stärker angezweifelt wird.  

Dóra Simon ist Studentin im Masterstudiengang "Internationale Politik und Internationales Recht" an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Schwerpunkten Europäische Integration sowie Völkerstrafrecht.

Die Rückkehr zum Meer – der ewige Konflikt Boliviens mit Chile um einen souveränen Meereszugang

   Ein Offizier der bolivianischen Marine (fuerza naval)
    (Quelle:https://www.flickr.com/photos/101436300@N08/9804349623) 
Alljährlich begeht die bolivianische Bevölkerung am 23. März den Tag des Meeres (día del mar) als Volksfest. Da der gesamte März im Zeichen des Meeres steht, werden die Bolivianer bereits zu Beginn des Meeresmonats auf die bevorstehenden Feierlichkeiten eingestimmt: die Zeitungen drucken regelmäßig Fotos von der Brandung ab, im Fernsehen werden Sondersendungen zu maritimen Themen ausgestrahlt und in den Schulen setzen die Lehrer die bedeutendsten Seeschlachten des Landes auf den Stundenplan. Das Kuriose an dieser Tradition? Neben Paraguay ist Bolivien als einziger Binnenstaat des amerikanischen Kontinents vom Meer abgeschnitten. So kommt es, dass die bolivianische Marine ihre Übungen nicht etwa auf der Hohen See, sondern 3800 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Titicacasee durchführt. Hier bereitet sich die höchstgelegene Marine der Welt auf mögliche militärische Operationen vor und gewährleistet die Sicherheit auf dem See, durch den die Grenze Boliviens zu Peru verläuft. Auch in der Amazonasregion zeigt die bolivianische Marine Präsenz: ihre Hauptaufgabe ist die Unterbindung des Drogenschmuggels auf den Flüssen. Dass auch Binnenstaaten eine Marine haben, ist nicht weiter ungewöhnlich. Mehr als ein Dutzend Länder unterhalten trotz fehlenden Meereszugangs durchaus funktionsfähige Seestreitkräfte, die auf den Binnengewässern patrouillieren. Was den bolivianischen Binnenstaat jedoch von den anderen unterscheidet, ist der seit 131 Jahren ungebrochene und zum Teil offensiv verfolgte Wunsch den eigenen Küstenstreifen wiederzuerlangen.

Das nationale Trauma

     Bolivianischer Marinestützpunkt am Ufer des Titicacasees
     (Quelle:https://www.flickr.com/photos/peace-on-earth_org/3102173414)
Im Zuge des Salpeterkriegs (1879-1883) gegen Chile mussten Peru und Bolivien erhebliche Gebietsverluste hinnehmen. Bolivien verlor seine maritime Provinz Antafagosta und musste ein Territorium von ca. 120.000 Quadratkilometern mit einem 400 Kilometer langen Küstenstreifen an Chile abtreten. Der Friedensvertrag von 1904 legt den heutigen Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern und die Bedingungen zur Mitbenutzung der chilenischen Häfen durch Bolivien fest. Trotz eines freien Zugangs zum Pazifik und zahlreicher Begünstigungen bei der Nutzung der Hafeninfrastruktur, pocht das Land bis heute auf einen souveränen Meereszugang. Laut Bolivien kam der Vertrag unter Zwang zustande und bedarf daher einer Totalrevision. Zu weiterem Missmut führte die Entdeckung gewaltiger Kupfervorkommen in der vormals bolivianischen Region, die Chile zum weltweit größten Kupferproduzenten machten und für seinen wirtschaftlichen Aufschwung Ausschlag gebend waren. Bolivien führt seine demgegenüber relative Unterentwicklung nicht etwa auf die instabilen politischen Verhältnisse und die Misswirtschaft im eigenen Land zurück, sondern auf den Verlust des Meereszugangs und der Rohstoffvorkommen der Provinz Antafagosta. Zwar unterhalten die beiden Länder – mit Ausnahme einer kurzen Annäherungsphase in den 70-er Jahren – aufgrund dieses Dauerkonflikts seit Jahrzehnten keine diplomatischen Beziehungen mehr zueinander. Kommunikation in Form von gegenseitigen Anschuldigungen stellt jedoch keine Seltenheit dar. Trotz wiederholter Zusicherungen seitens Chiles eine gemeinsame Lösung zu finden und Bolivien einen souveränen Meereszugang zu gewähren, hat sich bisher nichts Konkretes getan. 

Der Gang vor den IGH

Könnten bolivianische Marineübungen auf der Hohen See
bald Realität werden?
(Quelle:https://www.flickr.com/search?text=armada+boliviana)
Dass diesen Absichtserklärungen Chiles bisher keine Taten folgten, beanstandete Bolivien und zog 2013 vor den Internationalen Gerichtshof (IGH). Anders als beim Konflikt zwischen Chile und Peru geht es bei der bolivianischen Klage nicht um die Ziehung von Seegrenzen. Es wird auch keine Rückgabe des ehemaligen Küstenstreifens verlangt. Der IGH wurde von Bolivien dazu aufgefordert, eine Verpflichtung Chiles festzustellen nach „Treu und Glauben“ zu verhandeln und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Bolivien hat bei einer erfolgreichen Klage kaum etwas zu gewinnen: selbst wenn der IGH zugunsten des Landes entscheiden sollte, hat sich Chile lediglich zu weiteren Verhandlungen bereit zu erklären, muss Bolivien aber keinen souveränen Meereszugang gewähren. Doch warum wird der hohe Aufwand betrieben, um ein IGH-Verfahren in die Gänge zu leiten, dessen Urteil keine nennenswerten Änderungen nach sich ziehen wird? Hinter der bolivianischen Klage wird innenpolitisches Kalkül vermutet. Es ist durchaus im Sinne der Regierung nationalistische Gefühle weiter zu schüren, um von den Missständen im Inland abzulenken. Im Falle einer Zurückweisung der Klage, würde der Plan der bolivianischen Regierung allerdings nicht aufgehen: die bedeutendste internationale Rechtsprechungsinstanz würde die bolivianische Forderung nach einem souveränen Küstenstreifen delegitimieren. Doch egal wie das Verfahren ausgeht: dass die bolivianische Marine ihre Übungen in absehbarer Zeit auf der Hohen See durchführen wird, bleibt eine Wunschvorstellung.  


Dóra Simon ist Studentin im Masterstudiengang "Internationale Politik und Internationales Recht" an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Schwerpunkten Europäische Integration sowie Völkerstrafrecht.



Dienstag, 30. Dezember 2014

Weihnachten 2004 - Der Tsunami vom 26. Dezember und seine Folgen

Es war zwischen 9 und 10 Uhr morgens am zweiten Weihnachtstag 2004, also vor ziemlich genau 10 Jahren, als sich das Wasser hunderte Meter vom Strand der im Norden Sumatras gelegenen Provinz Aceh zurückzog. Die Bilder des kurz darauf folgenden Tsunamis, der insgesamt vermutlich bis zu 280.000 Menschenleben forderte und weitaus mehr Menschen zu Obdachlosen werden ließ, gingen damals wie kürzlich zum 10. Jahrestag um die Welt.
Dieses Unglück verdeutlichte nicht nur die Notwendigkeit eines Frühwarnsystems zum Schutz der Menschen vor solchen Naturkatastrophen in derart gefährdeten Regionen. Es war auch ein Beispiel für etwas, das leider allzu oft unter den Teppich gekehrt wird: die humanitären Hilfsleistungen der Bundeswehr.

Tsunamis – ein physikalisches Phänomen mit Tücke

Das Epizentrum des Seebebens vom 26. Dezember 2004...
(Quelle: The University of Sydney)
Tsunamis (japanisch, zusammengesetzt aus den Worten „große Welle“ und „Hafen“) sind Riesenwellen, die aus vertikalen Bewegungen des Meeresbodens, etwa Seebeben, Hangrutschen oder auch vulkanischen Eruptionen, resultieren. Die zum Teil bis zu 30 Meter hohen Wellen türmen sich allerdings erst in flacher werdenden Küstengewässern auf, was sie für die Küstenbewohner besonders gefährlich macht. Ist eine solche Riesenwelle in Sichtweite, bleibt den Menschen nur wenig Zeit zu reagieren. Auf hoher See sind die sich mit bis zu 800 km/h (die Geschwindigkeit ist unter anderem abhängig von der Wassertiefe) fortbewegenden Tsunamis kaum bemerkbar. Bereits der japanische Name für dieses Phänomen deutet darauf hin, dass es vor allem im pazifischen Raum vorkommt.

... und der Wirkungsbereich des darauf folgenden Tsunamis.
(Quelle: Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe)
Das Seebeben, welches dem Tsunami vom 26. Dezember 2004 vorausging, war eines der schwersten bisher gemessenen. Die sich vom Epizentrum konzentrisch ausbreitenden und mitunter bis zu 200 km langen Wellen erreichten die Küsten von Indien, Thailand, Malaysia, Indonesien, Sri Lanka, der Malediven sowie Somalias und Kenias.






Die Möglichkeiten eines Frühwarnsystems

Mit dem Indischen Ozean war 2004 eine Region betroffen, in der es, im Gegensatz zum pazifischen Raum, bis dato noch keine Frühwarnsysteme zur Tsunami-Erkennung gab. Während Forscher am anderen Ende der Welt, nämlich im Tsunami-Frühwarnzentrum von Hawaii (PTWC), dank ihrer Instrumente bereits acht Minuten nach dem Seebeben über die drohende Gefahr Bescheid wussten, war ein Großteil der Menschen in den konkret bedrohten Gebieten bis zuletzt ahnungslos. 
Aufgrund nicht vorhandener Informationsketten, des Fehlens einer Übersicht über die jeweiligen Ansprechpartner sowie unklarer Abläufe im Ernstfall versickerten die wahrscheinlich lebensrettenden Informationen aus Hawaii irgendwo im Nirgendwo.

Als Konsequenz der Katastrophe von 2004 wurde im indonesischen Jakarta mit deutscher Hilfe ein Tsunami-Frühwarnzentrum aufgebaut, das heute mithilfe eines Bojen-Systems im Indischen Ozean die Daten sämtlicher Erdbeben in der Region aufzeichnet und gegebenenfalls eine Tsunami-Warnung herausgibt. Diese soll dann spätestens 10-15 Minuten nach der ersten Aufzeichnung eines Bebens via Fernsehen und Rundfunk sowie durch Imame von den Minaretten der Moscheen verbreitet werden. In der Theorie sollen sich die Menschen dann auf neu errichtete Schutztürme oder in höher gelegene Regionen flüchten. 

Funktionsweise des 2005/06 errichteten Frühwarnsystems "GITEWS".
(Quelle: Deutsches Geoforschungszentrum

Am 26. Dezember 2004 dauerte es knapp eine halbe Stunde bis die erste Welle die Küste der Region Aceh erreichte. Nach heutigem Stand hätten die Menschen also knapp 15 Minuten gehabt, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die Bundeswehr im humanitären Hilfseinsatz

Bereits zwei Tage nach der Katastrophe begann die Bundeswehr aktiv mit der humanitären Hilfe. Ein Airbus A310 MedEvac flog in den ersten Tagen nahezu pausenlos verletzte Touristen zurück nach Deutschland und versorgte sie bereits in der Luft medizinisch.
Ab dem 06. Januar 2005 begann der Aufbau des mobilen Rettungszentrums des Sanitätsdienstes in der Region Aceh, das nur wenige Tage später seine Arbeit aufnehmen konnte. Die größte Gefahr drohte zu dem Zeitpunkt durch den Ausbruch einer Seuche oder einer Epidemie, wie beispielsweise Malaria. Schließlich waren die überfluteten Gebiete eine hervorragende Brutstätte für Mücken, welche die Krankheit übertragen können.

Am 13. Januar traf schließlich der Einsatzgruppenversorger (EGV) „Berlin“, der bereits am 30. Dezember 2004 aus der Operation „Enduring Freedom“ vor dem Horn von Afrika herausgelöst wurde, vor Aceh ein. Das Schiff hatte ein „Marineeinsatzrettungszentrum“ (MERZ) an Bord, in dem auch kompliziertere Operationen sowie genauere medizinische Analysen vorgenommen werden können.

Der EGV "Berlin" mit den Containern des MERZ (direkt unterhalb der Brücke) an Bord.
(Quelle: Wikipedia)

Insgesamt hat die Bundeswehr in ihrem bis Mitte März 2005 andauernden und bis dato größten humanitären Hilfseinsatz nicht nur dabei geholfen das General Hospital in der Provinzhauptstadt Banda Aceh wieder aufzubauen, sondern auch 2311 Menschen behandelt, 854 Patienten stationär aufgenommen, 196 Operationen durchgeführt, 3429 Malaria-Impfungen und 89 MedEvac-Flüge vorgenommen sowie Geräte und Medikamente im Wert von 2,7 Millionen Euro aus ihren Beständen an die indonesischen Behörden übergeben.

Dass die Bundeswehr eben nicht nur in bewaffneten Konflikten, sondern auch für derartige humanitäre Hilfsmissionen eingesetzt wird und in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag leistet, gerät leider immer wieder schnell in Vergessenheit.



Moritz Müller ist Student im Masterstudiengang "Internationale Politik und Internationales Recht" an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Schwerpunkte sind Außen- und (maritime) Sicherheitspolitik sowie völkerrechtliche Themen.

Montag, 29. Dezember 2014

DEUTSCHE FLAGGE FÜHRT VOR DEUTSCHE GERICHTE – Probleme mit der Jurisdiktion über somalische Piraten





Einer der in Hamburg verurteilten Somalier begleitet durch die niederländische Marine [Quelle: Ministerie van Defensie]
Im Oktober 2012 schlug die Verurteilung von zehn somalischen Piraten durch das Landgericht Hamburg nach mehr als 100 Verhandlungstagen hohe Wellen. Nach einem unerwartet zähen Verfahren verhängte das Gericht Haftstrafen zwischen sieben und zwei Jahren über die Männer, die im April 2010 das  Containerschiff „Taipan“ und seine 15 köpfige Besatzung überfallen hatten. "Wir maßen uns hier an, Recht zu sprechen nach unseren deutschen Vorstellungen über Menschen, deren Lebenssituation wir nicht mal annähernd nachvollziehen können", erklärte einer der beteiligten Strafverteidiger. Dennoch verurteilte im April 2014 auch das Landgericht Osnabrück einen 44 Jährigen wegen Beteiligung an der Entführung eines Chemietankers im Mai 2010. Die deutsche Justiz scheint sich also keineswegs mit der Logik einverstanden zu erklären, dass vor dem Hintergrund des failed-state Somalia im Golf von Aden effektive Straffreiheit für brutale Übergriffe auf deutsche Handelsschiffe herrscht. 
Trotz allem spricht vieles gegen die Verhandlung von Pirateriefällen, die sich in mehr als 5.000 km Entfernung ereignet haben, vor deutschen Gerichten. Deutschland ist nicht zuletzt auch deswegen zurückhaltend bei der Annahme der Verfahren, weil es die Einreise somalischer Krimineller ansonsten streng zu verhindern sucht. Dass man sich mit diesem Bemühen in bester Gesellschaft befindet, macht auch der Vorschlag des UN-Sonderberichterstatters Jack Lang deutlich, der für die schnellstmögliche „Somalisierung“ der Strafverfolgung plädiert. Nötig seien Investitionen in das somalische Rechtssystem zur Errichtung von drei spezialisierten Gerichten in Somaliland, Puntland und in Arusha sowie in drei Gefängnissen. Investitionen, die angesichts des desolaten Zustandes des Staates nicht zu Unrecht als riskant beurteilt werden. Die militärische Absicherung des Gebiets, unter anderem durch die EU-Operation ATALANTA, scheint zumindest kurzfristig wirkungsvoller zu sein. So gab es in diesem Jahr nur drei Piratenangriffe in der Region. 
 
Die Frage danach, wie mit aufgegriffenen Verdächtigen zu verfahren ist, kann militärisch allerdings nicht beantwortet werden. Solange Somalia die entsprechenden Strukturen fehlen, verlassen die EU und ihre Mitgliedsstaaten sich deswegen auf bilaterale Abmachungen und Auslieferungsabkommen mit Kenia, Mauritius und den Seychellen. Rückführungsabkommen wurden außerdem auch mit Somaliland und Puntland geschlossen. Durch diese könnten verurteilte Piraten theoretisch nach Somalia rückgeführt werden. Dem dürfte jedoch regelmäßig ein Anspruch auf Asyl nach Haftverbüßung entgegenstehen.
Dass jedoch auch die Auslieferung an afrikanische Staaten im Rahmen eines Rechtshilfeabkommens keineswegs unproblematisch ist, macht eine Entscheidung des OVG NRW in Münster deutlich. Die Übergabe eines somalischen Verdächtigen an die kenianische Justiz sei demnach unter anderem menschenrechtswidrig gewesen. Zwar habe Kenia in einem inoffiziellen Brief die menschenwürdige Inhaftierung zugesichert. Aufgrund verschiedener Botschaftsberichte hätte jedoch trotzdem klar sein müssen, dass der Gefangene in Kenia unter den typischen Haftbedingungen, die von katastrophalen hygienischen Verhältnissen sowie schlechter Wasser- und Nahrungsversorgung geprägt waren, zu leiden haben würde. Die Übernahme der deutschen Jurisdiktion durch Kenia – ein „Freundschaftsdienst“, den Kenia sich unter anderem auch von den USA und Großbritannien gut bezahlen lässt – dürften die Richter dadurch wohl vorerst beendet haben. 

Nichtsdestoweniger muss zur Lösung des Piraterieproblems eine effektive Strafverfolgung gewehrleistet werden. Das regelmäßige Abhalten von Verfahren nach dem Vorbild des Hamburgs Landgerichts, welches nicht weniger als 20 Verteidiger, 3 Dolmetscher, 2 Schöffen, 3 Richter und 2 Staatsanwälte im Wert von insgesamt mehr als einer Millionen Euro beschäftigte, kann dabei wohl kaum zielführend sein. Schließlich dürften die Wahrnehmung und somit auch die Abschreckungswirkung solcher Verfahren in der betreffenden Region entsprechend gering sein. Die Lösung kann deshalb nur in der „Somalisierung“ der Strafverfolgung liegen. Die 25 Vorschläge von Lang liefert hierfür einen ersten Entwurf, der sich mit geschätzten Kosten von weniger als 25 Millionen US-Dollar sogar als relativ günstig erweisen würde.
Das Problem der organisierten Kriminalität, über die insbesondere Hintermänner in Staaten wie Großbritannien und Kanada maßgeblich an der somalischen Piraterie beteiligt sind, dürfte damit jedoch kaum zu lösen sein. Hier stellt sich hoch entwickelten Rechtssystemen eine Aufgabe, in welche ihre Kapazitäten möglicherweise effektiver investiert wären.


Simone Ludewig ist Studentin im Fach "Internationale Politik und Internationales Recht" an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien des Internationalen Rechts und Themen des europäischen Menschenrechtsschutzes.