Freitag, 2. Januar 2015

Ri[gh]t(es) of Passage – Russlands nördlicher Seeweg

Über Jahrhunderte kennzeichnete der „Drang zum Meer“ die russische Außen- und Expansions-politik. Peter der Große errichtete 1703 die neue Hauptstadt seines Reiches, St. Petersburg, bewusst am neu gewonnenen Zugang zur Ostsee. 
In zahlreichen Auseinandersetzungen wie etwa dem Großen Nordischen Krieg gegen Schweden hatte Russland diesen Zugang zur Ostsee erzwungen und behaupten können. Ebenso gelang es, sich im 18. Jahrhundert gegen den Widerstand des osmanischen Reiches und dessen Verbündeten, dem Krimkhanat, den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern und sich ein Gebiet um die Halbinsel Krim unter dem heute wieder populären Namen „Neurussland“ einzuverleiben. Im 19. Jahrhundert gelangte Russland schließlich an den Pazifik und sicherte sich im Vertrag von Aigun 1858 Teile der Mandschurei von China, in dessen Folge die Stadt Wladiwostok am japanischen Meer gegründet wurde.
Das historische Ziel, der Zugang zum Meer, war erreicht. Dennoch haben diese Erfolge bis heute für Russland einen entscheidenden Schönheitsfehler: Die Zugänge zu diesen Seegebieten waren und werden von anderen Staaten kontrolliert, die heute überwiegend Verbündete des Erzrivalen USA sind. So kontrollieren die Ausgänge aus der Ostsee die NATO-Staaten Dänemark, Norwegen und Deutschland. Der Durchgang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer, der Bosporus, ist Hoheitsgebiet des NATO-Mitglieds Türkei (auch wenn die Durchfahrt bis heute im Vertrag von Montreux von 1936 geregelt bleibt) und auch der pazifische Raum wird von den US-Verbündeten Südkorea und Japan, wenn nicht von den USA selbst kontrolliert. Russland hat zwar Zugänge, aber alle stellen gewissermaßen „Kopfbahnhöfe“ dar. Nirgends kann Russland bedeutende internationale Seewege kontrollieren, sondern muss sich im Gegenteil mit der Kontrolle durch andere Staaten abfinden. Im Schwarzen Meer sieht Russland sich sogar immer stärker in die Defensive gedrängt. 2008 drohte gar die NATO-Mitgliedschaft der ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine, wogegen Russland sich mutmaßlich auch militärisch zur Wehr setzte: So 2008 im kurzen Krieg gegen Georgien, den Russland für sich entscheiden konnte. Seither versucht es, die Konflikte der abtrünnigen Teile Abchasien und Süd-Ossetien mit dem georgischen Mutterland dauerhaft am köcheln zu halten, um die Aufnahme Georgiens in die NATO möglichst lange zu verhindern. Aktuell geschieht dies auch in der Ukraine, von der die für Russland strategisch so wichtige Krim-Halbinsel annektiert wurde und in deren Osten Russland ebenfalls einen Dauerkonflikt zu installieren droht. Dennoch scheint es derzeit nicht in der Lage zu sein, einen weiteren Kontrollverlust im Schwarzen Meer zu Gunsten der NATO dauerhaft aufzuhalten. Das zeigt die Aufgabe der Blockfreiheit durch das ukrainische Parlament im Dezember 2014 und die Bekräftigung der Absicht durch die ukrainischen Regierung, Teil des NATO-Bündnisses werden zu wollen.

Seerouten in der Arktis, Bildquelle: thearcticinstitute.org
Dennoch besitzt Russland einen gewaltigen Küstenstreifen der sich von Europa bis Asien, vom Atlantik zum Pazifik erstreckt. Sie umfasst im Westen die Barentssee, in der Mitte die Kara-See, die durch zwei Meerengen begrenzt ist, sowie die Laptev-See und im Osten die Ostsibirische See und das Bering-Meer. Wenn sie eisfrei ist, verkürzt diese Nordostpassage den Seeweg von Europa nach Asien im Vergleich zu der klassischen Route durch den Suez-Kanal erheblich. Darüber hinaus münden hier zahlreiche Flüsse, die weit in die wenig zugänglichen Gebiete der russischen Taiga hineinreichen, wie Petschora, Ob oder Jenissei und erschließen die rohstoffreichen Gegenden Sibiriens, des Ural-Gebietes oder des Fernen Ostens Russlands. Darüber hinaus liegen in den Seegebieten selbst, vor allem der Kara-See, bedeutende Rohstoff-Vorkommen, deren Erschließung Russland derzeit in Angriff nimmt.
Bislang wurde die Passage schon in überschaubarem Umfang genutzt, vor allem zu Sowjetzeiten. Die wirtschaftliche Nutzung muss aber meist von Eisbrechern abgesichert werden und ist wegen des rauen Klimas auch sonst aufwendig und teuer. So ging mit dem Zerfall der Sowjetunion ein erheblicher Verlust der Infrastruktur einher, weil Eisbrecher nicht mehr betrieben wurden und Häfen wie Dikson stark an Einwohnern verloren und verfielen. Auch militärstrategisch war die Passage nie gänzlich unbedeutend, auch wenn sie von Überwasser-Einheiten nur in eng begrenztem Umfang befahren werden konnte. So nutzte 1940 sogar die deutsche Kriegsmarine die Nordostpassage, um mit Hilfe russischer Eisbrecher den Hilfskreuzer „Komet“ in den Pazifik zu überführen, der dort Handelskrieg gegen die alliierte Schifffahrt führte. Im Kalten Krieg waren es vor allem die strategischen Atom-Uboote der Sowjet-Marine, die die langgestreckten Hoheitsgewässer nutzten, um möglichst unerkannt in die Weiten der Meere zu entkommen, auch wenn dieser Vorteil durch die zahlenmäßige Überlegenheit amerikanischer Jagd-Uboote reduziert wurde.

Rohstoffe in der russischen Arktis, Bildquelle: thearcticinstitute.org

Mit dem Abschmelzen des nordpolaren Eises verbessert sich die Schiffbarkeit heute aber stetig weiter. 2013 wurden bereits über 70 kommerzielle Komplett-Passagen gezählt, eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren.
Für Rohstoffnationen wie Norwegen wäre dieser Seeweg eine Möglichkeit, die asiatischen Märkte etwa in Japan schneller bedienen zu können. Vor allem aber die eigenen russischen Ressourcenlagerstätten (mehr als 90% der russischen Rohstofflagerstätten entfallen auf den arktischen und subarktischen Raum) könnten deutlich besser ausgebeutet werden, gerade der Transport von Flüssiggas (LNG) durch Spezialschiffe erlebt seit einigen Jahren einen regelrechten Boom. Das wäre vor allem im Hinblick auf den rasant wachsenden asiatischen Energiemarkt für Russland attraktiv, das bisher durch sein Pipeline-Netz vor allem den westeuropäischen Markt im Auge hatte.
LNC-Tanker in der Nordostpassage 2014
Bildquelle: worldmaritimenews.com
Die bisherige Infrastruktur im Fernen Osten Russland lässt nämlich insgesamt noch stark zu wünschen übrig. So gilt etwa die Transsibirische Eisenbahn als deutlich überlastet und der Transport über den Seeweg wäre eine dringend nötige Ergänzung.
Die wachsende Bedeutung der Nordostpassage hat Russland erkannt und unterstreicht dies durch eine deutliche Erweiterung der rechtlichen Regelungen für seinen „nördlichen Seeweg“. So versucht die russische Regierung, die Meerengen umfassender zu kontrollieren, obwohl ihre Durchfahrt, selbst in der Kara-Straße, nach dem Seerechtsübereinkommen eigentlich nicht in die russische 12-Meilen-Zone fällt. Man behilft sich mit Anweisungen zu Eisbrecher- oder Lotsenpflicht oder generellen Sicherheitsbestimmungen. Dies musste etwa 2013 das Greenpeace-Schiff „Arctic Sunrise“ erfahren, dem die russischen Behörden mit Verweis auf angeblich mangelnde Eisgängigkeit die Einfahrt in die Kara-See verweigerten.
Nach der klassischen Seemachts-Definition von Sam Tangredi müsste Russland mit der Nordostpassage einen entscheidenden Trumpf im Ärmel haben. Bisweilen ist sogar von einem neuen russischen Suezkanal die Rede. Stimmt das?

Die Suezroute und die Nordostpassage im Vergleich
Bildquelle: usni.org

Die entscheidende Voraussetzung wäre, dass sich das Verkehrsaufkommen und damit die Bedeutung des Seeweges noch erheblich steigert. Bislang bleibt der Suezkanal die wichtigste Verbindungsstrecke zwischen Ost und West mit jährlich über 18.000 Passagen. Daran dürfte sich auch so schnell nichts ändern. Der Grund liegt vor allem in dessen ganzjähriger Nutzung und der Planbarkeit, denn die Nordostpassage kann in den Wintermonaten nicht befahren werden und niemand kann zuverlässig vorhersagen, in welchem Monat das Eis weit genug zurückgegangen ist, um eine sichere Durchfahrt gewährleisten zu können. Denn auch wenn das Eis im Mittel zurückgeht, besteht eine erhebliche Schwankungsbreite.
Darüber hinaus sind wegen fehlender Häfen kaum Zwischenstopps und damit kaum Handelsmöglichkeiten vorhanden. Die Durchfahrt würde – anders als auf der Suezroute – weitgehend als Nonstop-Passage erfolgen. Das macht sie für die Reeder unattraktiver, weil die Schiffe möglichst komplett ausgelastet sein sollten, was auf langen Strecken komplizierter ist.

Daneben erwächst dem russischen nördlichen Seeweg mit dem Abschmelzen des Eises auch zusätzliche Konkurrenz in Form der Nordwest-Passage durch das kanadische Archipel, die zwar auf der Referenz-Strecke von Yokohama nach Rotterdam 1000 Seemeilen länger und schwieriger ist, aber auch Russlands Spielraum, mit seinem Seeweg Machtpolitik zu betreiben, erheblich einengt.
Welcher Reeder würde sich schon einem willkürlichen russischen Durchfahrtsregime unterwerfen wollen, wenn es genug Ausweichmöglichkeiten gibt?
Öl- und Gasvorkommen in der Kara-See, Quelle: rosneft.com
Zu guter Letzt kann Russland zwar die Zugänge zum Kara-Meer kontrollieren, aber im europäischen Nordmeer, mit der Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland und weiter zwischen Island, den Färöern und den Shetlandinseln übernehmen wieder die NATO-Staaten. Im Osten muss man sich die Kontrolle der Beringstraße mit den USA, im japanischen Meer mit Japan und Südkorea teilen. Außerdem verläuft der direkteste Weg nördlich an der Kara-See vorbei, sodass die Kara-Straße ohnehin nur befahren wird, wenn die Eisverhältnisse zu schlecht sind. Dann aber ist eine Durchfahrt meist insgesamt so schwierig, dass sie ohnehin nur schwer zu realisieren wäre.
Darüber hinaus erfordert die wirtschaftliche Nutzung der Gebiete des nördlichen Seeweges erhebliche Investitionsanstrengungen. Nicht nur um die klimatischen Herausforderungen in den Griff zu bekommen, sondern auch um hausgemachte Probleme zu beseitigen: So wurden ausgemusterte Atom-Uboote der Sowjetmarine einfach im Kara-Meer versenkt, ausgerechnet dort, wo man zukünftig nach Öl und Gas bohren will. Diese Risiken müssen erst einmal umfangreich beseitigt werden, bevor man sich überhaupt an die nicht weniger kostenintensive Ausbeutung wagen kann. Partner ExxonMobil ist 2014 bereits abgesprungen.
Es bleibt also fraglich, ob Russland angesichts niedriger Ölpreise und der finanziellen Krise in die das Land derzeit abrutscht, diese Investitionen überhaupt noch schultern kann und ob sie sich dann wirtschaftlich überhaupt rechnen.

Russischer Kreuzer "Peter der Große" in der Arktis
Bildquelle: militaryphotos.net

Dennoch bietet sich für Russland die Möglichkeit, im Handel mit dem asiatischen Raum, vor allem China, eine deutlich größere Rolle zu spielen als zuvor. Das gilt insbesondere für den Handel mit fossilen Rohstoffen wie Flüssiggas, der Russland von dem zweischneidigen Schwert der Gasversorgung anderer Staaten durch Pipelines über Drittstaaten (etwa Ukraine) unabhängiger macht. So kann Russland besser einen globalen Markt bedienen, anstatt von den Abnehmern in Europa abhängig zu sein, die sich ihrerseits ja gerade aus der russischen Gasabhängigkeit befreien wollen. Auch für China dürfte eine Alternativroute nicht unattraktiv sein. Für die traditionelle Suez-Kanal-Strecke haben EU und NATO mit den Marineoperationen „Ocean Shield“, „ATALANTA“ und „Enduring Freedom“ deutlich gemacht, dass sie die Kontrolle über diesen Seeweg auch militärisch abzusichern bereit sind. Sie richten sich zwar gegen Terrorismus und Piraterie, implizieren aber dennoch, dass man sich diese Passage auch geopolitisch nicht streitig machen lässt. Als erklärte Neu-Seemacht mit einem ambitionierten Flottenprogramm könnte China mit seinem russischen Partner also eine Alternativroute vor allem im Bereich der eigenen Rohstoffversorgung kontrollieren.

Entwicklung der Frachtraten auf der Nordostpassage:
Steigend, aber noch nicht auf dem Niveau der Sowjetzeit
Quelle: arctic-lio.com


Auch wenn die Nordostpassage kaum zum zweiten Suez-Kanal und Russland dadurch ebenso wenig zu einer neuen Seesupermacht aufsteigen wird, erlangt die russische Föderation doch eine Reihe neuer Möglichkeiten und einen deutlich besseren maritimen Spielraum. Das mag nicht so sehr gelten, wenn man den Fokus auf Europa legt, vielleicht aber dann, wenn man ihn stattdessen Richtung Asien und vor allem auf China lenkt. Zum Schluss sollte man sich auch vor Augen führen, dass über dem Suez-Kanal immer das Damokles-Schwert einer islamistischen Bedrohung schwebt. Der Klimawandel wird nicht nur den Eisgürtel des nördlichen Polarmeeres beeinflussen, sondern zu einem gewissen Grad auch die politische Stabilität in Nordafrika. Für den Fall der Fälle hat Russland also kein falsches Ass im Ärmel. 



Knut Kollex studiert Politikwissenschaft, schleswig-holsteinische und nordeuropäische Geschichte an der CAU Kiel. Zu seinen Interessenschwerpunkten zählen - neben maritimen Themen - Fragen der Staatlichkeit und die Analyse politischer Risiken.  

1 Kommentar:

  1. Ein passender Artikel ist heute in der Newsweek erschienen. Russland sieht Chancen in der Arktis. Großmacht-Aspirationen werden stärker. Allerdings sollte auch beachtet werden, dass irgendjemand die Security- und Safety-Funktion übernehmen muss. Wer, wenn nicht Russland?

    http://www.newsweek.com/2015/01/16/putin-makes-his-first-move-race-control-arctic-296594.html?utm_medium=email&utm_source=emea-email&=

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